C. G. Jung-Forum
für Analytische Psychologie

Zitate

1 Es ist eine Sache zum Verzweifeln, daß es in der wirklichen Psychologie keine allgemeingültigen Rezepte und Normen gibt. Es gibt nur individuelle Fälle mit den allerverschiedensten Bedürfnissen und Ansprüchen, dermaßen verschieden, daß man im Grunde nie vorher wissen kann, welchen Weg ein Fall einschlagen wird, weshalb der Arzt am besten tut, auf alle vorgefaßten Meinungen zu verzichten. Das heißt aber nicht, sie über Bords zu werfen, sondern sie als Hypothesen möglicher Erklärung auf den Fall anzuwenden...(Die Probleme der modernen Psychotherapie, GW 16, S.: 76 ff, P 163)

2 Könnte man das Unbewußte personifizieren, so wäre es ein kollektiver Mensch, jenseits der geschlechtlichen Besonderheit, jenseits von Jugend und Alter, von Geburt und Tod, und würde über die annähernd unsterbliche menschliche Erfahrung von ein bis bis zwei Millionen Jahren verfügen. Dieser Mensch wäre schlechthin erhaben über den Wechsel der Zeiten. Gegenwart würde ihm ebensoviel bedeuten wie irgendein Jahr im hundersten Jahrtausend vor Christi Geburt, er wäre ein Träumer säkularer Träume, und er wäre ein unvergleichlicher Prognosensteller aufgrund seiner unermeßlichen  Erfahrungen. Denn er hätte das Leben des Einzelnen, der Familien, der Stämme und Völker unzählige Male erlebt und besäße den Rhythmus des Werdens, Blühens und Vergehens im lebendigsten inneren Gefühle (Die Dynamik des Unbewußten, GW 8, Das Grundproblem der gegenwärtigen Psychologie, Paragraph 673)

3 Die praktische Medizin ist und war immer ein Kunst. Das gleiche gilt von der Analyse. Wirkliche Kunst ist etwas Schöpferisches, und das Schöpferische ist jenseits aller Theorien. Darum sage ich zu jedem Anfänger: Lernen Sie Ihre Theorien so gut Sie nur können, aber legen Sie sie beiseite, wenn Sie das Wunder der menschlichen Seele berühren. Nicht Theorien, sondern allein Ihre schöpferische Persönlichkeit ist das Entscheidende. (Jacobi, Mensch und Seele, 107)

4 Der Patient ist nämlich dazu da, um behandelt zu werden, und nicht, um eine Theorie zu verifizieren. Es gibt keine Theorie im weiten Felde der praktischen Psychologie, die nicht gegebenenfalls grundfalsch sein kann. (Grundfragen der Psychotherapie, GW 16, S.:123, P 237)

5 Als Arzt ist es meine Aufgabe, dem Patienten zur Lebensfähigkeit zu verhelfen. Über seine letzten Entscheidungen kann ich mir darum kein Urteil anmaßen, weil ich aus Erfahrung weiß, daß jeder Zwang, seien es leise Suggestion oder Zureden oder sonstige Alterierungsmethoden, letzten Endes nichts bewirken als eine Verhinderung des höchsten und entscheidenden Erlebnisses, nämlich des Alleinseins mit seinem Selbst oder was für einen Namen man immer der Objektivität der Seele beilegen mag. Er muß schon allein sein, um zu erfahren, was ihn trägt, wenn er sich nicht mehr tragen kann. Einzig diese Erfahrung gibt ihm eine unzerstörbare Grundlage. (Psychologie und Alchemie, GW 12, S.: 43, P. 32)

6 Der größte Fehler, den ein Therapeut machen kann, ist der, daß er beim Analysanden eine der seinigen ähnliche Psychologie voraussetzt. (Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychologie des Traumes, 295)

7 Da aber alles Lebendige immer nur in individueller Form vorkommt und ich über das Individuelle des anderen immer nur das aussagen kann, was ich in meinem eigenen Individuellen vorfinde, so stehe ich in der Gefahr, entweder den anderen zu vergewaltigen oder selbst dessen Suggestion zu unterliegen. Ich muß daher wohl oder übel, insofern ich überhaupt einen individuellen Menschen behandeln will, auf alles Besserwissen, auf alle Autorität und alles Einwirkenwollen verzichten. (Grundsätzliches zur praktischen Psychotherapie, GW 16, S.4, P.2)

8 Das Geschehenlassen, das Tun im Nicht-Tun, das Sich-Lassen des Meister Eckhart wurde mir zum Schlüssel, mit dem es gelingt, die Tür zum Wege zu öffnen: Man muß psychisch geschehen lassen können. Das ist für uns eine wahre Kunst, von welcher unzählige Leute nichts verstehen, indem ihr Bewußtsein beständig helfend, korrigierend und verneinend dazwischenspringt und das einfache Werden des psychischen Prozesses nicht in Ruhe lassen kann. Die Aufgabe wäre ja einfach genug. Wenn nur nicht die Einfachheit das allerschwierigste wäre! (Kommentar zum Geheimnis der Goldenen Blüte, Ges. Werke 13, S. 25, P 20)

9 Diese Übungen müssen solange fortgesetzt werden, bis der Bewußtseinskrampf gelöst ist, bis man, mit anderen Worten, geschehen lassen kann, was der nächste Zweck der Übung ist. Dadurch ist eine neue Einstellung geschaffen. Eine Einstellung, die auch das Irrationale und Unbegreifliche annimmt, einfach weil es das Geschehende ist. Diese Einstellung wäre Gift für einen, der sowieso schon vom schlechthin Geschehenden überwältigt ist; sie ist aber von höchstem Wert für einen, der durch ausschließlich bewußtes Urteil stets nur das seinem Bewußtsein Passende aus dem schlechthin Geschehenden ausgewählt hat und damit schließlich auch aus dem Strom des Lebens heraus in ein totes Seitengewässer geraten ist. (Kommentar zum Geheimnis der Goldenen Blüte, Ges. Werke 13, S. 26, P 23)

10 Man muß geschehen lassen können. Ich habe vom Osten gelernt, was er mit Wu Wei ausdrückt, nämlich, das Nicht-Tun (nicht Nichtstun), das Lassen. Auch andere haben das erkannt, so Meister Eckhardt, wenn er davon spricht, sich zu lassen. Die dunkle Stelle, an die man anstößt, ist ja nicht leer, sondern die spendende Mutter, die Bilder und der Same. Wenn die Oberfläche abgeräumt ist, kann es aus der Tiefe wachsen. (Zur Empirie des Individuationsprozesses. Ges. Werke 9/1)

11 Niemand rührt Feuer oder Gift an, ohne an gewissen undichten Stellen etwas davon abzubekommen; denn der wahre Arzt steht nirgends daneben, sondern überall drin. (Psychologie und Alchemie, GW 12, S.: 20, P 5)

12 Denn, wie man es auch drehen und wenden mag, die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist eine persönliche Beziehung innerhalb des unpersönlichen Rahmens der ärztlichen Behandlung. Es ist mit keinem Kunstgriff zu vermeiden, daß die Behandlung das Produkt einer gegenseitigen Beeinflussung ist, an welcher das ganze Wesen des Patienten sowohl wie das des Arztes teilhat...Das Zusammentreffen von zwei Persönlichkeiten ist wie die Mischung zweier verschiedener chemischer Körper: tritt eine Verbindung überhaupt ein, so sind beide gewandelt...

Was heißt nun diese Forderung? (nach eigener Analyse) Sie bedeutet nichts anderes, als daß der Arzt ebenso in der Analyse ist, wie der Patient. Er ist ebensosehr Bestandteil des seelischen Vorganges der Behandlung wie letzterer und darum ebensosehr den verwandelnden Einflüssen ausgesetzt wie jener. Ja, in dem Maße, als sich der Arzt diesem Einfluß gegenüber unzugänglich erweist, ist er auch des Einflusses auf den Patienten beraubt... (Die Probleme der modernen Psychotherapie, GW 16, S.: 76 ff, P 163-166)

13 Auch der erfahrendste Psychotherapeut muß immer wieder entdecken, daß eine ihn angehende Bindung und Verbindung auf Grund eines gemeinsamen Unbewußten eingetreten ist. Und wenn er schon alle über alle nötigen Begriffe und Kenntnisse der konstellierten Archetypen unterrichtet zu sein wähnt, so wird er doch schließlich zur Einsicht kommen, daß es noch sehr viele Dinge gibt, die sich seine Schulweisheit nicht träumen läßt.

14 Jeder neue Fall, der gründliche Behandlung erfordert, bedeutet Pionierarbeit, und jede Spur von Routine entpuppt sich als Irrweg. Die höheren Formen der Psychotherapie sind daher eine sehr anspruchsvolle Beschäftigung und stellen gelegentlich Aufgaben, welche nicht nur den Verstand und das Mitgefühl, sondern den ganzen Menschen in die Schranken fordern. Er muß sich nur bewußt sein, daß diese Forderung nur dann wirkt, wenn er zugleich weiß, daß sie auch ihm selber gilt. (Die Psychologie der Übertragung, GW 16, 189 f, P. 367)

15 Die Psychotherapie ist, im Grunde genommen, eine dialektische Beziehung zwischen Arzt und Patient. Es ist eine Auseinandersetzung zwischen zwei seelischen Ganzheiten, in welcher alles Wissen nur Werkzeug ist. Das Ziel ist die Wandlung, und zwar nicht eine vorausbestimmte, sondern vielmehr unbestimmbare Veränderung, deren einziges Kriterium das Verschwinden der Ichhaftigkeit ist. Kein Bemühen des Arztes erzwingt das Erlebnis. Er kann dem Patienten höchsten den Weg ebnen zur Erreichung einer Haltung, welche dem entscheidenden Erlebnis den geringsten Widerstand entgegensetzt. (Vorwort zu Suzuji:Die große Befreiung, GW 11, 598f, P. 904)

16 Es braucht bei den meisten Menschen ein Gegenüber, sonst ist die Erlebnisgrundlage zuwenig real; der Mensch hört sich sonst nicht, kann sich von nichts Fremdem abheben und damit kontrollieren. Alles verfließt innen und wird immer nur von einem selber und nicht von einem anderen, Verschiedenen, beantwortet. Es macht unendlich viel aus, ob ich meine Schuld mir selber oder einem anderen eingestehe. (Jacobi, 112; 75:17)

17 Letzten Endes erweist sich seine Arbeit als intellektueller Bluff - denn wie könnte er seinem Patienten helfen, die krankhafte Minderwertigkeit zu überwinden, wenn seine eigene Inferiorität so offensichtlich ist? Wie kann der Patient seine neurotischen Ausflüchte opfern, wenn er sieht, wie der Arzt selber mit sich Verstecken spielt, als fürchte er, für minderwertig angesehen zu werden, wenn er die professionelle Maske der Autorität, der Kompetenz, des überlegenen Wissens usw. Fallen ließe?

18 Der Prüfstein jeder Analyse, die sich nicht mit einem teilweisen Erfolg zufrieden gibt oder erfolglos zum Stillstand kommt, ist immer die Mensch-zu-Mensch-Beziehung. In dieser psychologischen Situation steht der Patient dem Arzt als Gleichberechtigter und mit derselben unbarmherzigen Kritik gegenüber, die er selber im Laufe der Behandlung durch den Arzt erfahren mußte.

19 Diese Form der persönlichen Beziehung entspricht einer freiwillig eingegangenen Verpflichtung oder Verbindung, die der Fessel der Übertragung entgegensetzt ist. Für den Patienten bedeutet sie gleichsam eine Brücke, über die er die ersten Schritte auf eine sinnvolle Existenz wagen kann. Er entdeckt nun den Wert seiner eigenen, einmaligen Persön- lichkeit; er sieht, daß er so, wie er ist, angenommen wird, und daß er imstande ist, sich den Forderungen des Lebens anzupassen. Aber die Entdeckung kann nicht gemacht werden, solange der Arzt sich hinter der Methode verschanzt und es sich gestattet, hemmungslos zu nörgeln und zu kritisieren. ...Darum sollte der Arzt statt dessen vielmehr dem Patienten das Recht zu absolut freier Kritik einräumen; denn der Patient muß sich wirklich menschlich gleich- berechtigt fühlen. (Der therapeutische Wert des Abreagierens, GW 16, S.: 147 f, P. 288 ff)

20 Aber was ist Illusion? Von welchem Standpunkt aus können wir etwas als Illusion bezeichnen? Gibt es für die Seele etwas, was wir als Illusion bezeichnen dürften? Für die Seele ist sie vielleicht eine wichtige Lebensform, eine Unerläßlichkeit, wie der Sauerstoff für den Organismus. Was wir Illusionen nennen, ist vielleicht eine seelische Tatsächlichkeit von überragender Bedeutung. Die Seele kümmert sich wahrscheinlich nicht um unsere Wirklichkeitskategorien. Für sie scheint in erster Linie wirklich zu sein, was wirkt...Im Seelischen sind, wie überall in unserer Erfahrung, wirkende Dinge Wirklichkeiten, gleichgültig, welche Namen ihnen der Mensch gibt. (Ziele der Psychotherapie, GW 16, S.: 55, P 111)

21 Will der Arzt die Seele eines anderen führen oder sie auch nur begleiten, so muß er mit ihr Fühlung haben. Diese Fühlung kommt nie zustande, wenn der Arzt verurteilt. Ob er das nun mit soviel Worten laut tut oder unausgesprochen im stillen, ändert nichts an der Wirkung. (Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge, GW 11 , S.: 366, P. 519)

22 Man kann nichts ändern, das man nicht annimmt....Will der Arzt einen Menschen helfen, so muß er sie in seinem So-Sein annehmen können. Er kann dies aber nur dann wirklich tun, wenn er zuvor sich selber in seinem So-Sein angenommen hat. (Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge, GW 11, 367, P. 519)

23 Moderne Menschen wollen nichts mehr von Schuld und Sühne hören. Sie haben an ihrem eigenen bösen Gewissen genug und wollen vielmehr wissen, wie man sich mit seinen eigenen Tatsachen aussöhnen, wie man den Feind im eigenen Herzen lieben und zum Wolfe Bruder sagen kann. (Über die Beziehung zwischen Psy. Und Seelsorge, GW 12, S.:369, P. 523)

24 Stufen der Psychotherapie: Bekenntnis, Aufklärung, Erziehung und Verwandlung, Katharsis, Reinigung (Die Probleme der modernen Psychotherapie, GW 16, S: 59 ff. , P122 ff.)

25 Alle diese therapeutischen Leitideen bedeuten beträchtliche ethische Forderungen, die alle zusammen in der einen Wahrheit gipfeln: Du mußt der sein, als der du wirken willst. Das bloße Reden hat von jeher als hohl gegolten, und es gibt schlechterdings keinen Kunstgriff, der um diese einfache Wahrheit auf die Dauer herum betrügen könnte. Nicht wovon man überzeugt ist, sondern daß man überzeugt ist, hat zu allen Zeiten gewirkt. Die vierte Stufe der analytischen Psychologie verlangt also Rückanwendung des jeweilig geglaubten Systems auf den Arzt selber, und zwar mit derselben Schonungslosigkeit, Konsequenz und Ausdauer, die der Arzt dem Patienten gegenüber an den Tag legt. (Die Probleme der modernen Psychotherapie, GW 16, S.:78, P.167 f.)

26 Hier tritt nun aber ein heilsamer kompensierender Effekt hervor, den ich immer wie ein Wunder bestaunen muß. Gegenüber der gefährlichen Auflösungstendenz erhebt sich aus demselben kollektiven Unbewußten eine Gegenwirkung in der Form eines durch eindeutige Symbole gekennzeichneten Zentrierungsvorganges. Dieser Prozeß schafft nichts Geringeres als ein neues Persönlichkeitszentrum, welches zunächst durch Symbole als dem Ich überlegen gekennzeichnet ist und sich später empirisch auch als überlegen erweist. (Die Psychotherapie der Gegenwart, GW 16, S. 108, P.219)

27 Wer die menschliche Seele kennenlernen will, der wird von der experimentellen Psychologie soviel wie nichts darüber erfahren. Ihm wäre zu raten, lieber die exakte Wissenschaft an den Nagel zu hängen, den Gelehrtenrock auszuziehen, der Studierstube Valet zu sagen und mit menschlichem Herzen durch die Welt zu wandern, durch die Schrecken der Gefängnisse, Irrenhäuser und Spitäler, durch trübe Vorstadtkneipen, Bordelle und Spielhöllen, durch die Salons der eleganten Gesellschaft, die Börsen, die sozialistischen Meetings, die Kirchen, die Revivals und Ekstasen der Sekten zu gehen, Liebe und Haß, Leidenschaft in jeder Form am eigenen Leibe zu erleben, und er käme zurück mit reicherem Wissen beladen, als ihm fußdicke Lehrbücher je gegeben hätten, und er wird seinem Kranken ein Arzt sein können, ein wirklicher Kenner der menschlichen Seele. (Neue Bahnen der Psychologie. Rascher 1912 In: Ges. Werke 7, Olten: Walter 1974, S.: 268/269)

28 Es ist ... eine ebenso schwierige wie undankbare Aufgabe, das Wesen des Individuationsprozesses im einzelnen Falle darzustellen... Kein individueller Fall meiner Erfahrung ist so allgemein, daß er alle Aspekte aufwiese und damit als übersichtlich gelten könnte... Die Alchemie hat mir darum den unschätzbar großen Dienst geleistet, mir ihr Material, in dessen Umfang meine Erfahrung genügend Raum findet, anzubieten und hat es mir dadurch möglich gemacht, den Individuationsprozeß in seinen hauptsächlichen Aspekten zu beschreiben. (Jung, Mysterium Conjunctionis, 14-2, P. 447)

29 Sehr bald hatte ich gesehen, daß die Analytische Psychologie mit der Alchemie merkwürdig übereinstimmt. Die Erfahrungen der Alchemisten waren meine Erfahrungen, und ihre Welt war in gewissem Sinne meine Welt. Das war für mich natürlich eine ideale Entdeckung, denn damit hatte ich das historische Gegenstück zu meiner Psychologie des Unbewußten gefunden. Jung, 209 , Erinnerungen

30Auf einem niedrigen Hügel in dieser weiten Savanne erwartete uns eine Aussicht sondergleichen. Bis an den fernsten Horizont sahen wir riesige Tierherden...Langsam strömend, grasend, die Köpfe nickend bewegten sich die Herden - kaum daß man den melancholischen Laut eines Raubvogels vernahm. Es war die Stille des ewigen Anfangs, die Welt, wie sie schon immer gewesen, im Zustand des Nicht-Seins; denn bis vor kurzem war niemand vorhanden, der wußte, daß es diese Welt war. Ich entfernte mich von meinen Begleitern, bis ich sie nicht mehr sah und das Gefühl hatte, allein zu sein. Da war ich nun der erste Mensch, der erkannte, daß dies die Welt war und sie durch sein Wissen in diesem Augenblick erst wirklich erschaffen hatte. Hier wurde mir die kosmische Bedeutung des Bewußtseins überwältigend klar. Was die Natur unvollständig läßt, vervollständigt die Kunst heißt es in der Alchemie ... der Mensch ist unerläßlich zur Vollendung der Schöpfung, ja er ist der zweite Weltschöpfer selber, welcher der Welt erst das objektive Sein gibt, ohne das sie ungehört, ungesehen, lautlos fressend, gebärend, sterbend, köpfenickend durch Hunderte von Jahrmillionen in der tiefsten Nacht des Nicht-Seins hin ablaufen würde. Menschliches Bewußtsein erst hat objektives Sein und den Sinn geschaffen, und dadurch hat der Mensch seine im großen Seinsprozeß unerläßliche Stellung gefunden. (Jung, Erinnerungen, 260)

31 Im analytischen Prozeß, d.h. in der dialektischen Auseinandersetzung zwischen dem Bewußtsein und dem Unbewußten, gibt es eine Entwicklung, ein Fortschreiten zu einem Ziel oder Ende, dessen schwer zu enträtselnde Natur mich über viele Jahre beschäftigt hat. ... Solche Erfahrungen haben mich zuerst in der Annahme bestärkt, daß es in der Seele einen von äußeren Bedingungen sozusagen unabhängigen, zielsuchenden Prozeß gebe, und mich von der Besorgnis, ich selber könnte die alleinige Ursache eines uneigentlichen ... psychischen Vorganges sein, befreit. (C.G.Jung, Psychologie und Alchemie (1943). GW 12. Olten, Freiburg 1984. S. 18 f. § 3-4)

32 In Geist und Leben findet sich folgende Differenzierung: Was sollen wir unter dem Ich verstehen? Offensichtlich handelt es sich bei aller Einheit des Ich um eine höchst mannigfaltig zusammengesetzte Größe. Es beruht auf den Abbildern der Sinnesfunktionen, welche Reize von innen und außen vermitteln, und es beruht des ferneren auf einer ungeheuren Ansammlung von Bildern vergangener Vorgänge. Alle diese überaus verschiedenen Bestandteile bedürfen eines starken Zusammenhaltes, als welchen wir eben das Bewußtsein erkannt haben. Das Bewußtsein scheint damit die unerläßliche Vorbedingung des Ich zu sein. ... Durch diese Auffassung des Ich als einer Zusammensetzung von seelischen Elementen werden wir logisch zu der Frage geführt: ist das Ich das zentrale Bild, der ausschließliche Vertreter des gesamten menschlichen Wesens? Hat es alle Inhalte und Funktionen auf sich bezogen und in sich ausgedrückt? Diese Frage müssen wir verneinen. Das Ichbewußtsein ist ein Komplex, der nicht das Ganze des menschlichen Wesens umfaßt: es hat vor allem unendlich mehr vergessen, als es weiß. Es hat unendlich vieles gehört und gesehen und ist sich dessen nie bewußt geworden. Gedanken wachsen jenseits seines Bewußtseins, ja sie stehen schon fix und fertig bereit, und es weiß nichts davon. Von der unglaublich wichtigen Regulierung der inneren Körpervorgänge, zu welcher das sympathische Nervensystem dient, hat das Ich kaum eine dämmerhafte Ahnung. Was das Ich in sich begreift, ist vielleicht der kleinste Teil von dem, was ein vollständiges Bewußtsein in sich begreifen müßte. (C. G. Jung, Geist und Leben (1926). GW 8. Olten, Freiburg 1982. S. 355 f. § 611-13)

33 Die Seele ist nicht von heute! Ihr Alter zählt viele Millionen Jahre. Das individuelle Bewußtsein aber ist nur der saisongemäße Blüten- Und Fruchtständer, der aus dem perennierenden unterirdischen Rhizom emporwächst, und dieser befindet sich in besserer Übereinstimmung mit der Wahrheit, wenn er die Existenz des Rhizoms mit in seine Rechnung einbezieht, denn das Wurzelgeflecht ist aller Mutter. (C.G.Jung, Symbole der Wandlung (1912/1952). GW V. Olten, Freiburg 1981. S. 13)

34 Wir wollen dazu nochmals C. G. Jung bemühen: Der Individuationsprozeß hat zwei prinzipielle Aspekte: einerseits ist er ein subjektiver, interner Integrationsvorgang, andrerseits aber ein ebenso unerläßlicher objektiver Beziehungsvorgang. -- Diesem Doppelaspekt entsprechen zwei typische Gefahren: die eine besteht darin, daß das Subjekt die durch die Auseinandersetzung mit dem Unbewußten gebotenen geistigen Entwicklungsmöglichkeiten dazu benützt, sich tieferen menschlichen Verpflichtungen zu entziehen und eine 'Geistigkeit  zu affektieren, welche der moralischen Kritik nicht standhält; die andere besteht darin, daß die atavistischen Neigungen zu sehr überwiegen und die Beziehung auf ein primitives Niveau hinunterdrücken. Zwischen dieser Skylla und Charybdis führt der schmale Weg.... (C.G.Jung, Die Psychologie der Übertragung (1946). GW 16. Olten, Freiburg 1984. S. 249. §448)

35 Das ewig wechselnde Leben der Seele ist eine größere, wenn auch unbequemere Wahrheit, als die sichere Starrheit des einen Gesichtspunktes.  Es macht das Problem der Psychologie nicht einfacher.  Indessen sind befreit vom Alp des "Nichts als", dem unvermeidlichen Leitmotiv jeder Einseitigkeit (Jacobi, 35, 3:29)

36 So gut nämlich der Mensch einen Körper hat, der sich im Prinzip vom Tierleib nicht unterscheidet, so hat auch seine Psychologie gewissermaßen untere Stockwerke, in denen noch die Geister vergangener Menschheitsepochen hausen, sowie die Tierseelen aus der Zeit des Anthropopithecus, ferner die "Psyche" des kaltblütigen Sauriers und zu allertiefst die transzendente Unbegreiflichkeit und Paradoxie der sympathischen und parasympathischen Vorgänge (Jacobi, 39, 41: (1)232

37 Die Psychologie des einzelnen ist niemals erschöpfend aus ihm selber zu erklären, sondern es muß auch klar erkannt werden, daß und wie seine individuelle Psychologie durch die zeitgeschichtlichen Umstände bedingt ist.  Sie ist nicht bloß ein physiologisches, biologisches oder persönliches, sondern auch ein zeitgeschichtliches Problem.  (Jacobi, 39, 57:497)

38 Irgendein psychologischer Tatbestand läßt sich niemals erschöpfend aus seiner Kausalität allein erklären, indem er als lebendiges Phänomen immer in die Kontinuität des Lebensprozesses unauflöslich verknüpft ist, so daß er zwar einerseits stets ein Gewordenes, andererseits aber auch stets ein Werdendes, Schöpferisches ist.  Der psychologische Moment hat ein Janusgesicht: er blickt rückwärts und vorwärts.  Indem er wird, bereitet er auch das Zukünftige vor... (Jacobi, 39, 57:497)

39 Das Wesen der Psyche reicht sowohl in Dunkelheiten weit jenseits unserer Verstandeskategorien.  Die Seele enthält so viele Rätsel wie die Welt mit ihren galaktischen Systemen, vor deren Anblick nur ein phantasieloser Geist sein Ungenügen sich nicht zugestehen kann.  Bei dieser äußersten Unsicherheit menschlicher Auffassung ist aufklärerisches Getue nicht nur lächerlich, sondern auch betrüblich geistlos.  (Jacobi, 40, 67:473/474)

40 Seelische Dinge sind Erlebnisvorgänge, das heißt Wandlungen, welche niemals eindeutig bezeichnet werden dürfen, will man nicht das lebendig Bewegte in ein Statisches verwandeln.  Das unbestimmt-bestimmte Mythologem und das schillernde Symbol drücken den seelischen Prozeß treffender, vollkommener und damit unendlich viel klarer aus als der klarste Begriff; denn das Symbol vermittelt nicht nur eine Anschauung des Vorganges, sondern auch - was vielleicht ebenso wichtig ist - ein Mit- und Nacherleben des Vorganges, dessen Zwielicht nur durch ein inoffensives Mitfühlen und niemals durch den groben Zugriff der Deutlichkeit verstanden werden kann.  (Jacobi 68, 47:135)

41 Verstehen wir überhaupt je, was wir denken?  Wir verstehen bloß jenes Denken, das nichts ist als eine Gleichung, aus der nie mehr herauskommt, als wir hineingesteckt haben.  Das ist der Intellekt.  Über ihn hinaus aber gibt es ein Denken in urtümlichen Bildern, in Symbolen, die älter sind als der historische Mensch, ihm seit Urzeiten angeboren und alle Generationen überdauernd, ewig lebendig die Untergründe unserer Seele erfüllend.  Volles Leben ist nur in Übereinstimmung mit ihnen möglich, Weisheit ist Rückkehr zu ihnen.  (Jacobi, 71, 38:459)

42 Die Vision des Symbols bedeutet einen Hinweise auf den weitern Weg des Lebens, eine Anlockung der Libido zu einem noch fernen Ziel, das aber von da an unauslöschlich in ihm wirkt, so daß sein Leben, entfacht wie eine Flamme, stetig weiter schreitet zu fernen Zielen.  Das ist auch die spezifisch lebensfördernde Bedeutung des Symbols.  Das ist auch der Wert und Sinn des religiösen Symbols.  Ich meine damit natürlich nicht dogmatisch erstarrte, tote Symbole, sondern Symbole, die dem schaffenden Unbewußten des lebendigen Menschen entsteigen.  Die ungeheure Bedeutung solcher Symbole kann eigentlich nur der leugnen, der die Weltgeschichte mit dem heutigen Tage beginnen läßt.  (Jacobi, 72, 57: 132)

43 Wir müssen das in sich selbst sich erfüllende Leben und Geschehen in Bilder, in Sinne, in Begriffe auflösen, wissentlich dabei vom lebendigen Geheimnis uns entfernend.  Solange wir im Schöpferischen selbst befangen sind, sehen und erkennen wir nicht, wir dürfen sogar nicht einmal erkennen, denn nichts ist dem unmittelbaren Erleben schädlicher und gefährlicher als die Erkenntnis.  Zum Erkennen aber müssen wir uns außerhalb des schöpferischen Prozesses begeben und ihn von außen ansehen, und dann erst wird er zum Bilde, welches Bedeutungen ausspricht.  Dann dürfen wir nicht nur, sondern müssen sogar von "Sinn" sprechen.  (Jacobi, 217, 79:50)

44 Weltanschauung haben, heißt: ein Bild von der Welt und sich selber erschaffen, wissen, was die Welt ist und wer ich bin.  Wörtlich genommen wäre das zuviel.  Niemand kann wissen, was die Welt ist, und ebensowenig, wer er selber ist.  Aber cum grano salis will es heißen: bestmögliche Erkenntnis.  Bestmögliche Erkenntnis erfordert Wissen und verabscheut unbegründete Annahmen, willkürliche Behauptungen, autoritäre Meinungen.  Sie sucht aber die wohlbegründete Hypothese, ohne zu vergessen, daß alles Wissen beschränkt und dem Irrtum unterworfen ist.  (Jacobi, 300, 4:413/414)

45 Der Mensch ist nur halb verstanden, wenn man weiß, woraus alles bei ihm entstanden ist.  Wenn es nur daran läge, so könnte er ebensogut schon längst gestorben sein.  Als Lebender ist er aber nicht begriffen; denn das Leben hat nicht nur ein Gestern, und es ist nicht erklärt, wenn das Heute auf das Gestern reduziert wird.  Das Leben hat auch ein Morgen, und das Heute ist nur dann verstanden, wenn wir zu unserer Kenntnis dessen, was gestern war, noch die Ansätze des Morgen hinzufügen können.  Das gilt von allen psychologischen Lebensäußerungen, selbst von den krankhaften Symptomen.  (Jacobi, 305, 109:49)

46 Alles Gute ist kostbar, und die Entwicklung der Persönlichkeit gehört zu den kostspieligsten Dingen.  Es handelt sich um das Jasagen zu sich selber - sich selbst als ernsthafteste Aufgabe sich vorsetzen und sich dessen, was man tut, stets bewußt bleiben und es in allen seinen zweifelhaften Aspekten sich stets vor Augen halten-, wahrlich eine Aufgabe, die ans Mark geht  (Jacobi, 334, 96:25)

47 Persönlichkeit ist höchste Verwirklichung der eingeborenen Eigenart des besonderen lebenden Wesens.  Persönlichkeit ist die Tat des höchsten Lebensmutes, der absoluten Bejahung des individuell Seienden und der erfolgreichsten Anpassung an das universal Gegebene bei größtmöglicher Freiheit der eigenen Entscheidung.  (Jacobi, 335, 90:135)

Die Seele als ein sich selbstregulierendes System ist balanciert wie das Leben des Körpers. Für alle exzessiven Vorgänge treten sofort und zwangsläufig Kompensationen ein, ohne sie gäbe es weder einen normalen Stoffwechsel noch eine normale Psyche. In diesem Sinne kann man die Kompensationslehre als eine Grundregel für das psychische Verhalten überhaupt erklären. Das Zuwenig hier erzeugt ein Zuviel dort.
49: 162/163

48 Die größten und wichtigsten Lebensprobleme sind im Grunde genommen alle unlösbar; sie müssen es auch sein, denn sie drücken die notwendige Polarität, welche jedem selbstregulierenden System immanent ist, aus. Sie können nie gelöst, sondern nur überwachsen werden. (C.G. Jung aus Jacobi, 325, 96:12)

49 Unsere persönliche Psychologie ist nur eine dünne Haut, ein leichtes Kräuseln auf dem Ozean der kollektiven Psychologie. Der machtvolle Faktor, der Faktor, der unser Leben verändert und der Geschichte macht, ist die kollektive Psychologie, und die kollektive Psychologie bewegt sich nach Gesetzen, die von denen unseres Bewußtseins von Grund auf verschieden sind. Die Archetypen sind die großen entscheidenden Mächte, sie bringen die echten Ereignisse hervor, und nicht unser Verstand und praktischer Intellekt... Es sind ohne Zweifel die archetypischen Bilder, die das Schicksal des Menschen bestimmen (Jacobi 63, 81: 191/192)

50 Der Traum ist die kleine verborgene Türe im Innersten und Intimsten der Seele, welche sich in jene kosmische Urnacht öffnet, die Seele war, als es noch längst kein Ichbewußtsein gab, und welche Seele sein wird, weit über das hinaus, was ein Ichbewußtsein je wird erreichen können. Denn alles Ichbewußtsein ist vereinzelt, erkennt einzelnes, indem es trennt und unterscheidet, und gesehen wird nur, was sich auf dieses Ich beziehen kann. Das Ichbewußtsein besteht aus lauter Einschränkungen, auch wenn es an die fernsten Sternnebel reicht. Alles Bewußtsein trennt; im Traume aber treten wir in den tieferen, allgemeineren, wahreren, ewigeren Menschen ein, der noch im Dämmer der anfänglichen Nacht steht, wo er noch das Ganze, und das Ganze in ihm war, in der unterschiedslosen, aller Ichhaftigkeit baren Natur. Aus dieser allverbindenden Tiefe stammt der Traum, und sei er noch so kindisch, noch so grotesk, noch so unmoralisch. (Jacobi 77, 9:40)

51 Der Traum ist, wie jedes Stück des psychischen Zusammenhanges, eine Resultante des Ganzen der Psyche. Daher dürfen wir erwarten, im Traume auch alles zu finden, was im Leben des Menschen seit uralters Bedeutung hatte. So wenig sich das menschliche Leben an sich auf diesen oder jenen Grundtrieb beschränkt, sondern sich auf eine Vielheit von Trieben, Bedürfnissen, Notwendigkeiten, physischen und psychischen Bedingtheiten aufbaut, ebensowenig ist der Traum aus diesem oder jenem Element zu erklären, so bestechend einfach eine derartige Erklärung auch ausfallen mag. Wir können sicher sein, daß sie unrichtig ist, denn keine einfache Triebtheorie wird jemals imstande sein, die menschliche Seele, dieses gewaltige und geheimnisvolle Ding, zu erfassen und daher auch nicht ihren Ausdruck, den Traum. Um dem Traum auch nur einigermaßen gerecht zu werden, bedürfen wir eines Rüstzeuges, das wir uns aus allen Gebieten der Geisteswissenschaft mühsam zusammenstellen müssen. (Jacobi 78, 2:315)

52 Psychisches Sein ist in Wahrheit die einzige Kategorie des Seins, von der wir unmittelbar Kenntnis haben, weil nichts bekannt sein kann, wenn es nicht als psychisches Bild erscheint. Nur psychischische Existenz ist unmittelbar nachweisbar. Wenn die Welt nicht die Form eines psychischen Bildes annimmt, ist sie praktisch nicht-existierend. (C.G.Jung, Jacobi, 34, 18:517)

53 Die großen Lebensprobleme sind nie auf immer gelöst. Sind sie es einmal anscheinend, os ist es immer ein Verlust. Ihr Sinn und Zweck scheint nicht in ihrer Lösung zu liegen, sondern darin, daß wir unablässig an ihnen arbeiten. Das allein bewahrt uns vor Verdummung und Versteinerung (Jacobi, 326, 38:450)

54 Die größten und wichtigsten Lebensprobleme sind im Grunde genommen alle unlösbar; sie müssen es auch sein, denn sie drücken die notwendige Polarität, welche jedem selbstregulierenden System immanent ist, aus. Sie können nie gelöst, sondern nur überwachsen werden. (C.G. Jung aus Jacoby, 325, 96:12)

55 Dieses >>Überwachsen<< stellt sich bei weiterer Erfahrung als eine Niveauerhöhung des Bewußtseins heraus. Irgendein höheres und weiteres Interesse trat in den Gesichtskreis, und durch diese Erweiterung des Horizontes verlor das unlösbare Problem die Dringlichkeit. Es wurde nicht in sich selber logisch gelöst, sondern verblaßte gegenüber einer neuen und stärkeren Lebensrichtung. Es wurde nicht verdrängt und unbewußt gemacht, sondern erschien bloß in einem anderen Licht, und es wurde auch anders. Was auf tieferer Stufe Anlaß zu den wildesten Konflikten und zu panischen Affektstürmen gegeben hätte, erschien nun, vom höheren Niveau der Persönlichkeit betrachtet, wie ein Talgewitter, vom Gipfel eines hohen Berges aus gesehen. Damit ist dem Gewittersturm nichts von seiner Wirklichkeit genommen, aber man ist nicht mehr drin, sondern drüber. (Jacobi, 326, 96:12)

56 Der ichbewußte Mensch bedeutet nur einen kleinen Teil des lebenden Ganzen, und sein Leben stellt noch keine Verwirklichung des Ganzen dar. Je mehr er bloßes Ich ist, desto mehr spaltet er sich vom kollektiven Menschen, der er auch ist, ab und gerät sogar in einen Gegensatz zu diesem. Da aber alles Lebende nach seiner Ganzheit strebt, so findet gegenüber der unvermeidlichen Einseitigkeit des Bewußtseinslebens eine beständige Korrektur und Kompensation von seiten des allgemeinmenschlichen Wesens in uns statt, mit dem Ziele einer schließlichen Integration des Unbewußten im Bewußtsein, oder besser, einer Assimilation des Ich an eine umfangreichere Persönlichkeit. (Jacobi, 327, 91:333/334)

57 Nicht ich schaffe mich selbst, ich geschehe vielmehr mir selber. (Jabobi, 342, 92:23)

58 Das Ich, als das angeblich und fiktiv Allerbekannteste, ist in Wirklichkeit ein höchst komplexer Tatbestand, der unergründliche Dunkelheiten in sich schließt. Ja man könnte es sogar als eine relativ konstante Personifikation des Unbewußten selber definieren oder als jenen Schopenhauerschen Spiegel, in welchem das Unbewußte des eigenen Gesichtes gewahr wird. (Jacobi, 33, 41: 117)

59 Die Psyche erschafft täglich die Wirklichkeit. Ich kann diese Tätigkeit mit keinem anderen Ausdruck als mit Phantasie bezeichnen. Die Phantasie ist ebenso Gefühl wie Gedanke, sie ist ebenso intuitiv wie empfinden. Es gibt keine psychische Funktion, die in ihr nicht ununterscheidbar mit den anderen psychischen Funktionen zusammenhinge. Sie erscheint bald als uranfänglich, bald als letztes und kühnstes Produkt der Zusammenfassung alles Könnens. Die Phantasie erscheint mir daher als der deutlichste Ausdruck der spezifischen psychischen Aktivität. Sie ist vor allem die schöpferische Tätigkeit, aus der die Antworten auf alle beantwortbaren Fragen hervorgehen, sie ist die Mutter aller Möglichkeiten, in der auch, wie alle psychologischen Gegensätze, Innenwelt und Außenwelt lebendig verbunden sind.
(Jacobi, 34,

60 Soweit wir zu erkennen vermögen, ist es der einzige Sinn der menschlichen Existenz, ein Licht anzuzünden in der Finsternis des bloßen Seins.
(Erinnerungen 329)

61 Und da selbst das Unbewußte die Notwendigkeit des individuellen Standpunkts anerkennt, bringt es ihn mit derselben Hartnäckigkeit ein wie das Hauptmotiv, gibt ihm denselben Wert und die gleiche Würde, so daß wir annehmen dürfen, wie ich meine, daß das Kleinste genauso wichtig ist wie das Größte. Es gäbe keine Sahara ohne das einzelne Sandkorn, und das Wassermolekül ist absolut unerläßlich für das Meer. Der einzelne Mensch ist unerläßlich für die Existenz des Kosmos, und wenn wir zu den lächerlichen Unzulänglichkeiten unseres persönlichen Lebens zurückkehren, dann ist das ein genauso interessantes Problem, wie wenn wir auf jene Anhöhen hinaufgeführt werden, von wo aus wir einen flüchtigen Eindruck von der vollen Dimension des universellen Lebens erhalten.
(Traumanalyse 493)

63 Die Paradoxie gehört sonderbarerweise zum höchsten geistigen Gut; die Eindeutigkeit aber ist ein Zeichen der Schwäche. Darum verarmt eine Religion innerlich, wenn sie ihre Paradoxien verliert oder vermindert; deren Vermehrung aber bereichert, denn nur das Paradoxe vermag die Fülle des Lebens annähernd zu fassen, die Eindeutigkeit und das Widerspruchslose aber sind einseitig und darum ungeeignet, das Unerfaßliche auszudrücken.
(GW 12,30)

64 Wir glauben an den Wohlfahrtsstaat, an den Weltfrieden, mehr oder weniger an die Gleichberechtigung aller Menschen, an die ewiggültigen Menschenrechte, an Gerechtigkei und Wahrheit und (nicht zu laut) an das Reich Gottes auf Erden.
In Wirklichkeit ist es traurige Wahrheit, daß unsere Welt und das Leben aus unerbittlichen Gegensätzen besteht, aus Tag und Nacht, Wohlergehen und Leid, Geburt und Tod, Gut und Böse. Wir sind nicht einmal sicher, daß eines das andere aufwiegt, das Gute das Böse oder die Freude den Schmerz. Leben und Welt sind ein Schlachtfeld, waren es immer schon und werden es immer sein, und wäre dies nicht der Fall, so würde das Dasein bald ein Ende nehmen. Einen ausgewogenen Zustand gibt es nirgends.
(GW 18 1, 266f.)

65 Wenn man den rasenden Lebenswillen aufgeben kann und wenn es einem vorkommt, als fiele man in bodenlosen Nebel, dann beginnt das wahre Leben mit allem, wozu man gemeint war und was man nie erreichte. Das ist etwas unaussprechlich Großes.
(Briefe 1, 443)

66 Wenn die Psyche des Menschen etwas ist, so ist sie unabsehbar kompliziert und von einer unbeschränkten Mannigfaltigkeit, der mit bloßer Triebpsychologie unmöglich beizukommen ist. Ich kann nur in tiefster Bewunderung und Ehrfurcht anschauend stille stehen vor den Abgründen und Höhen seelischer Natur, deren unräumliche Welt eine unermeßliche Fülle von Bildern birgt, welche Jahrmillionen lebendiger Entwicklung aufgehäuft und organisch verdichtet haben. Mein Bewußtsein ist wie ein Auge, das fernste Räume in sich faßt, das psychische Nicht-Ich aber ist das, was diesen Raum unräumlich erfüllt. Und diese Bilder sind nicht blasse Schatten, sondern mächtig wirkende seelische Bedingungen, die wir nur mißverstehen, aber niemals durch Leugnung ihrer Macht berauben können. Neben diesem Eindruck vermöchte ich nur noch den Anblick des gestirnten nächtlichen Himmels stellen, denn das Äquivalent der Welt innen ist nur die Welt außen, und wie ich diese Welt durch das Medium des Körpers erreiche, so erreiche ich jene Welt durch das Medium der Seele.
(GW4,381f.)

67 In der jugendlichen Expansion erscheint uns das Leben als ein immer breiter werdender Strom, und diese Überzeugung begleitet uns oft noch weit über den Mittag unseres Daseins hinaus. Doch wenn wir auf die leiseren Stimmen unserer tieferen Natur hören, werden wir uns der Tatsache bewußt, daß schon bald nach der Lebensmitte die Seele ihr geheimnisvolles Werk beginnt und den Abschied vorbereitet. Aus dem Getümmel und der Wirrnis unseres Lebens beginnt sich die eine kostbare Blüte des Geistes zu entfalten, die vierblättrige Blüte des unsterblichen Lichtes, und selbst wenn unser sterbliches Bewußtsein dieses geheimnisvollen Vorgangs nicht gewahr sein sollte, vollbringt er doch in der Stille sein Läuterungswerk.
(GW 18 11, 815 f.)

68 Ich sagte vorhin, daß wir keine Schulen für Vierzigjährige hätten. Das ist nicht ganz wahr. Unsere Religionen sind seit alters solche Schulen oder waren es einmal. Aber für wie viele sind sie es noch? Wie viele von uns älteren Leuten sind in einer solchen Schule wirklich für das Geheimnis der zweiten Lebenshälfte, für das Greisenalter, den Tod und die Ewigkeit erzogen worden?
(GW 8, 43 8; Grundw. 9, 73)

Es ist schwer zu sehen, welch andere Zielpunkte die zweite Lebenshälfte haben sollte als diejenigen der ersten: Erweiterung des Lebens, Nützlichkeit, Wirksamkeit, Figurmachen im sozialen Leben, umsichtige Bugslerung der Nachkommenschaft in passende Ehen und gute Stellungen - Lebenszweck genug! Leider nicht genügend Sinn und Zweck für viele, die im Altern nur das bloße Abnehmen des Lebens erblicken und die früheren Ideale als verblaßt und verbraucht zu empfinden vermögen! Gewiß, hätten diese Menschen früher schon ihre Lebensschale bis zum Überfließen gefüllt und bis zum Grunde geleert, so würden sie jetzt wohl anders empfinden, sie hätten nichts zurückgehalten, alles, was brennen wollte, wäre verbrannt, und die Stille des Alters wäre ihnen willkommen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die wenigsten Menschen Lebenskünstler sind und daß zudem die Lebenskunst die vornehmste und seltenste aller Künste ist - den ganzen Becher in Schönheit zu leeren, wem gelänge das? So bleibt für viele Menschen zuviel Ungelebtes übrig - oftmals sogar Möglichkeiten, die sie beim besten Willen nicht hätten leben können, und so betreten sie die Schwelle des Alters mit einem unerfüllten Anspruch, der ihnen den Blick unwillkürlich rückwärts lenkt.
(GW 8, 439 f.; Grundw. 9, 74)

69 Das Leben der zweiten Lebenshälfte heißt nicht Aufstieg, Entfaltung, Vermehrung, Lebensüberschwang, sondern Tod, denn sein Ziel ist das Ende. SeineLebenshöhe-nicht-Wollen ist dasselbe wie SeinEnde-nicht-Wollen. Beides ist: Nicht-leben-Wollen. Nicht-leben-Wollen ist gleichbedeutend mit Nichtsterben-Wollen. Werden und Vergehen ist dieselbe Kurve.
(GW 8, 447; Grundw. 9, 8 1)

70 Je älter ich werde, desto tiefer bin ich beeindruckt von der Vergänglichkeit und Unsicherheit unserer Erkenntnis, und desto mehr suche ich Zuflucht bei der Einfachheit unmittelbarer Erfahrung, um den Kontakt mit den wesentlichen Dingen nicht zu verlieren, nämlich den Dominanten, welche die menschliche Existenz durch die Jahrtausende bestimmen.
(Briefe Ill, 327)

71  Alles in allem war mir meine Krankheit eine überaus wertvolle Erfahrung; sie gab mir die kostbare Gelegenheit, einen Blick hinter den Schleier zu tun. Nur das ist schwierig: sich vom Körper zu lösen, nackt zu werden und leer von Welt und Ich-Willen. Wenn man den rasenden Lebenswillen aufgeben kann, und wenn es einem vorkommt, als fiele man in bodenlosen Nebel, dann beginnt das wahre Leben mit allem, wozu man gemeint war und das man nie erreichte. Das ist etwas unaussprechlich Großes. Ich war frei, vollständig frei und ganz, wie ich mich nie zuvor gefühlt hatte ... Es war ein stummes, unsichtbares Fest, und ein unvergleichliches, unbeschreibliches Gefühl ewiger Seligkeit durchdrang es; nie hätte ich geglaubt,  dass ein solches Gefühl im Bereich menschlicher Erfahrung läge. Von außen gesehen und solange wir außerhalb des Todes stehen, ist er von größter Grausamkeit. Aber sobald man darinsteht, erlebt man ein so starkes Gefühl von Ganzheit und Frieden und Erfüllung,  dass man nicht mehr zurückkehren möchte.
(Briefe    )

72  Die großen Ereignisse der Weltgeschichte sind, im Grunde genommen, von tiefster Belanglosigkeit. Wesentlich ist in letzter Linie nur das subjektive Leben des einzelnen. Dieses allein macht Geschichte, in ihm allein finden alle großen Wandlungen zuerst statt, und alle Zukunft und alle Weltgeschichte stammen als ungeheure Summation doch zuletzt aus diesen verborgenen Quellen des einzelnen. Wir sind in unserem privatesten und subjektivsten Leben nicht nur die Erleider, sondern auch die Macher einer Zeit. Unsere Zeit - das sind wir!
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